Nun liegt also der ISAF-Bericht zu der Bombardierung des im September geraubten Tanklastzuges in Kunduz vor – präziser: Er liegt der Bundeswehrführung vor. Das heißt auch, dass die Öffentlichkeit die Ereignisse selbst immer noch nicht fundiert bewerten kann, sondern nur die Interpretation derer, die den Bericht gelesen haben. Als erster lässt uns nun der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, an seiner Lesart teilhaben. Das tut er gewohnt professionell, und er verteidigt – u.E. zu Recht – die Entscheidung des damaligen Kommandeurs, den Befehl zum Angriff zu geben, auch zur Erleichterung und Freude der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. So weit, so gut.
Wer aber genauer hinschaut, erkennt an der Semantik Schneiderhans, dass eigentlich noch nichts geklärt ist. Die Kernaussage hierzu lautet: „Der NATO-Bericht führt lediglich an, dass lokale Führer vor Ort von möglicherweise 30 40 toten und verletzten – wie es im Bericht heißt – Civilians berichteten. Er bestätigt damit nicht, dass durch den Luftschlag unbeteiligte Personen getötet wurden.“ Auf Deutsch: „Civilians“ mögen zwar Zivilisten sein, was jedoch nicht bedeutet, dass sie Unbeteiligte sind. Darüber hinaus stammten die Angabe von „lokalen Führern.“ Sind sie also weniger wert?
Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die vermeintliche Faktenebene des Berichtes zu verlassen und den gesunden Menschenverstand einzuschalten. Auch ohne Kenntnis des Berichtes, wage ich zu behaupten, dass selbstverständlich Zivilisten vor Ort waren und bei dem Angriff getötet und verletzt wurden. Natürlich waren sie nicht unbeteiligt. Sie mögen gezwungen worden sein, sich zu beteiligen oder sie haben es freiwillig getan. Aber sie sind Beteiligte und Opfer – wie überall auf der Welt, wo in bitterarmen Regionen Menschen an ein Leck in einer Ölleitung strömen (dass sie vielleicht auch selbst geschlagen haben).
Anstatt aber die Fakten, sprich den Bericht, auf den Tisch zu legen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen (oder zumindest anzukündigen, dass dies geschehen wird – so, wie beispielsweise bei Flugunfallberichten), versucht sich Schneiderhan immer noch an der Schuldbefreiung. Ob sie gerechtfertigt ist, ist solange nicht zu sagen, wie der Bericht nicht öffentlich ist. Der Angriff von Kunduz ist und bleibt damit eine Ikone des Versagens des deutschen Afghanistaneinsatzes, denn die sachrichtige Entscheidung von Oberst Klein ist die Folge einer unklaren politischen und militärischen Strategie, einer unzureichend ausgerüsteten Truppe vor Ortund einer Kommunikationspolitik, die mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten gibt.