“Soldat sein heute – Leitgedanken zur Neuausrichtung der Bundeswehr“, so lautet der Titel einer Broschüre, die der Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, herausgegeben hat, und deren Inhalt im Wesentlichen auch einer Rede Wiekers an der Führungsakademie der Bundeswehr am 3. Mai 2012 entspricht.
Diese Rede ist, folgt man dem entsprechenden Verzeichnis auf der Webseite des Verteidigungsministeriums, außer einer Rede anlässlich des 100. Geburtstags von General a.D. Ulrich de Maizière, Wiekers erste größere Rede. Und, man muss es leider so deutlich sagen, sie ist ein Dokument des Versagens. Nicht etwa eines persönlichen Versagens Wiekers, nein, aber diese Rede dokumentiert, dass die Bundeswehr eine Armee ohne eigenen intellektuellen Kern ist. Sie ist an der Spitze eine Armee der Beamten in Uniform, die vor lauter treuem Dienen vergessen haben, dieses Dienen zu hinterfragen, um es aus einer eigenen soldatischen Identität heraus positiv zu begründen.
Man muss nicht gleich einen militärischen Großdenker wie Clausewitz zum Vergleich heranziehen, um auf Defizite der deutschen Generalität hinzuweisen. Es reicht völlig, sich im Rahmen einer erweiterten Zeitungslektüre mit Stellungsnahmen von Generalen oder Wissenschaftlern anderer Nationen der westlichen Gemeinschaft zu befassen, um festzustellen, dass bis auf die Arbeiten des Politikwissenschaftler Herfried Münkler, quasi kaum ein Gedanke eines deutschen Denkers, zu einer wahrnehmbaren Resonanz im internationalen sicherheitspolitischen Diskurs geführt hat.
Auch die Rede Wiekers, beziehungsweise ihre in einer Broschüre niedergelegte Fassung, wird daran nichts ändern. Die Frage, warum das so ist, lässt sich hier nicht angemessen beantworten. Dennoch muss ich, wenn ich ein solches Urteil fälle, versuchen, zu begründen, warum. Der nachvollziehbarste – und zugegeben sicherste – Weg ist es, den Text an seinen eigenen Ansprüchen zu messen.
„Wir müssen also gleichermaßen unser berufliches Selbstverständnis und unsere Führungskultur weiterentwickeln“, fordert Wieker auf den ersten Seiten der Broschüre unter der Überschrift Unsere Neuausrichtung. Damit wird bereits ganz am Anfang das ganze Dilemma des Textes deutlich. Zum einen macht Wieker Selbstverständnis und Kultur zu Erfüllungsgehilfen eines Verwaltungsprozesses, zum anderen zeigt die Wortwahl, dass Wieker jedweden militärischen Eigensinn zu Gunsten der Affirmation gegenüber der Politik preiszugeben bereit ist. “Unser“ ist eines der Possessivpronomen, die keinen Widerspruch dulden und gerade deshalb in der weichgespülten Welt der Unternehmenskommunikation so beliebt sind, weil sie im Kern sagen, daß wer nicht für uns ist, gegen uns ist. Und der Begriff berufliches Selbstverständnis unterschlägt, dass das Selbstverständnis des Offiziers viel treffender mit dem des soldatischen Selbstverständnis zu bezeichnen wäre.
Wie dramatisch die Defizite von Wiekers Text bereits in der Exposition sind, zeigt ein Vergleich mit einer Rede von Thomas de Maizière, die dieser im März im Rotary-Club München Schwabing gehalten hat: „Wozu brauchen wir Soldaten? Wozu töten, wozu sterben? Was für Fragen! Diese Fragen sind wohl die schwersten, die es gibt, und sie sind wohl so alt wie die Menschheit selbst.“
Diese Fragen, und damit die grundlegenden Fragen zum soldatischen Selbstverständnis, stehen über der Frage wie eine Organisationsreform gelingt. Wer will, dass einem Menschen, Soldaten folgen, wäre gut beraten, sie dort anzusprechen, wo es um ihre nun doch berufliche Identität geht, und sie nicht von Anfang an rhetorisch unter den Willen eines Ministeriums zu zwingen. Dieses Machtverhältnis ist ohnehin zu Recht unhinterfragbar.
Man mag diese Kritik für Wortklauberei halten, und im Kern ist sie das auch. Aber wo, wenn nicht beim Wort, sollten wir den höchsten deutschen Militär nehmen? Wie wichtig das ist, um – auch das sein Appell – sich in den Diskurs einzubringen, zeigt sich auch in den folgenden Kapiteln. Das, was dort steht, ist inhaltlich nicht falsch – wie auch, sind es doch Allgemeinplätze -, aber es ist so richtig, dass es beliebig und damit dann doch falsch ist. Wer einen solchen Text als Absolvent des Generalstabslehrgangs in seiner Jahresarbeit einreichte, müsste fürchten, dass dieser als Arbeitsverweigerung gewertet werden würde.
So beginnt Wiekers Standortbestimmung weder mit einer Bezugnahme auf eine der großen strategischen sicherheitspolitischen Linien – mögliche Alternativen wären hier (unabhängig davon, ob man die Auffassung ihrer Vertreter teilt) der Kampf der Kulturen, Ressourcenkonflikte, Verwerfungen in der arabischen Welt, Asien, Afrika, die neue Einsatzrealität oder auch alles zusammen gewesen -, sondern mit der Wiedervereinigung, Frauen in der Bundeswehr, Glaubensrichtungen in der Bundeswehr, individualistischen Tendenzen unter Soldaten, Mediennutzungsverhalten, dem Generationenkonflikt in der Bundeswehr, dem demographischen Wandel, der Pendlerproblematik und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Erst dann kommt Wieker im Kapitel Einsatzrealität und Freiwilligenarmee auf die, so zumindest die Wahrnehmung, die ich aus Gesprächen mit aktiven und ehemaligen Soldaten mitnehme und teile, wesentliche Veränderung zu sprechen, die soldatisches Dienen heute prägt. Aber auch hier schreibt er nicht vom existentiellen Moment des Kampfes oder darüber, was es bedeutet, zu töten oder sich der Gefahr auszusetzen, getötet zu werden. Nein, er kleistert dieses Erleben mit Formulierungen zu wie Die Notwendigkeit, in Gefechten und militärischen Kampfhandlungen zu bestehen, trat erst in den letzten Jahren verstärkt ins Bewusstsein unserer Streitkräfte und einer breiten Öffentlichkeit. Das meint nicht weniger, als den bewussten Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Gegner, der häufig in hochkomplexen Szenarien ohne Bindung an das humanitäre Völkerrecht seine Mittel in asymmetrischer Aufstellung zur Wirkung bringt (…).
Wer vergessen hat, worin der anfängliche Erfolg des ehemaligen Ministers zu Guttenberg begründet war, sei hier daran erinnert, dass er als erster die offizielle Erzählung des Ministeriums mit der Erzählung der Soldaten im Einsatz zusammenführte, als er von Krieg sprach. Wieker hingegen spricht an der falschen Stelle und im falschen Ton über diese Dinge.
Wozu brauchen wir Soldaten? Wozu töten, wozu sterben? Diese Fragen, auch ganz ohne Pathos vorgetragen, sind es, die den Soldaten, den Offizier und die Gesellschaft bewegen oder zumindest bewegen sollten. Wer in der Lage ist, angemessen über diese Dinge zu sprechen, wäre auch in der Lage, über Die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft zu sprechen, so Wiekers folgenden Kapitelüberschrift.
Hier, beschränkt auf einen kurzen Absatz, schafft es Wieker, einen klaren Gedanken zu formulieren, indem er anspricht, daß und wie das Erleben der Soldaten und das Erleben der Gesellschaft auseinanderlaufen. Dieser Gedanke wäre es wert gewesen und ist es immer noch , der Kristallisationspunkt seines Textes zu werden. Stattdessen nutzt ihn Wieker nur, um über das Verhältnis der Bundeswehr und der Gesellschaft und die Rolle der Medien zu räsonieren. Diese Gedanken sind zwar richtig, allerdings belässt es Wieker dabei, den status quo zu referieren und die mangelnde Anerkennung zu beklagen. Einen echten Leitgedanken immerhin das proklamierte Ziel des Textes wie das zu ändern wäre, wie es gelingen könnte, die Erzählungen der Soldaten und die der Gesellschaft zu verbinden, formuliert Wieker nicht.
Auch der Abschnitt zum beruflichen Selbstverständnis bleibt weitgehend ohne intellektuellen Impuls. Im Gegenteil: Im Kern muss man diesen Teil als ein Plädoyer Wiekers für mehr politische Bildung und Schulung in innerer Führung lesen. Weder äußert sich Wieker überzeugend zur Rolle des Soldaten als Kämpfer, noch befasst er sich mit den anderen Rollen, die der Soldat heute auszufüllen hat. Der Schritt zu einem weiterführenden Gedanke, wie dem Soldaten als miles protector und von hier zu einem naheliegenden gedanklichen Strategierahmen wie der kontroversen Diskussion um die Responsibility Protect gelingt Wieker nicht.
So schwach wie der Text beginnt, endet er auch: Mit einem dürren Appel zur Weiterentwicklung des Traditionserlasses sowie einem Schlußgedanken, der keiner ist, sondern nichtssagende Worte darüber, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr (…) eben auch gewährleisten (muss), dass die geistige und sittliche Verfassung sowie das innere Gefüge der Truppe unter den veränderten Bedingungen in Takt bleiben.
Was aber, wenn genau diese geistige und sittliche Verfassung sowie das innere Gefüge der Truppe schon längst nicht mehr im Takt sind? Was, wenn das einzige, was noch in Takt wäre, der Zusammenhalt der Einheiten im Einsatz sowie die Affirmation der Generalität gegenüber der Politik wären? Ein solcher Text wäre es wert, geschrieben zu werden und könnte in der Tat wegweisende Leitgedanken zur Neuausrichtung der Bundeswehr enthalten.